Boot Camp

5 Beiträge in diesem Thema

Empfohlene Beiträge

Den folgenden Text habe ich zwar schon auf meinem Blog gepostet - da den aber sowieso kaum jemand ließt, also auch nochmal hier :huh: Ich hoffe, das geht bei euch als Fieldreport durch.

Meine Angst vor hübschen Frauen zeigt sich ja vor allem nachts im Club. Eigentlich haben alle Spaß, tanzen, trinken; auch ich. Doch dann steh' ich da und denke mir: "Nee, komm Alter, die will jetzt bestimmt nicht mit dir reden." So lähmend diese Erfahrung ist – sie wird von einer noch größeren Angst übertroffen: Dieselben Frauen tagsüber auf der Straße anzusprechen. Anders gesagt: Was sich nachts oft mit Alkohol lösen lässt, lässt mich bei Tageslicht fast verzweifeln. Meine Feigheit dabei ist ziemlich ernüchternd – weshalb ich in den letzten Monaten zu der Überzeugung gekommen bin, dass sich da etwas ändern muss. Wer im Umgang mit Frauen nun wirklich so völlig hilflos ist, dem wird in einschlägigen Foren oft ein Boot Camp empfohlen. Ich habe nie eins gemacht, halte mich von Zeit zu Zeit ja sogar für recht charmant und erfolgreich, doch dann geht in der Woche darauf wieder überhaupt nichts und ich bekomme meine Zähne nicht auseinander. Ergo: Ein Boot Camp. Nichts zu verlieren, außer Zeit. Acht Wochen, acht verschiedene Aufgaben. Dabei geht es vor allem um eins: um Selbstvertrauen.

Also ab in die Innenstadt. Ich soll fünfzig Fremden ein "Hi" entgegenschleudern und gleichzeitig auf Blickkontakte achten – suchen, finden, halten. Eigentlich halte ich mich ja in letzterem für relativ geübt; aber nicht im Alles-klar-sie-hat-im-43-Grad-Winkel-nach-unten-Links-weggeguckt-also-bin-ich-in-Zone-Q7-jetzt-muss-ich-nur-noch-einen-Neg-bringen-und-ich-hab-ihre-Nummer Sinne, sondern irgendwie wohl auf Flirt-Basis und natürlich vor allem nachts im Club. Also los.

Irgendwie freue ich mich auf die ganze Aktion; die Semesterferien haben gerade begonnen und Persönlichkeitsentwicklung ist ja immer eine interessante Beschäftigung. Warum ich ansonsten eher zuhause vor dem PC hocke kann ich nach dem letzten Satz aber auch nicht wirklich erklären. Egal, ich wollte ja los.

Nach zehn Minuten Busfahrt tut sich die Mönckebergstraße vor mir auf. Perfektes Wetter und mehr als genug Menschen auf der Straße. Blickkontakt also. Ok. Die erstbeste Frau in der entgegenkommenden Menge. Vielleicht Mitte 30, schlank, streng zurückgebundene Haare und ein entschlossener Gang. Ich fixiere meinen Blick auf ihre Augen, wie ich sonst die Schaufenster rechts von mir betrachten würde: mit durchschnittlichem Interesse. Sechs Meter; sie starrt geradeaus. Vier Meter; ich lasse meinen Blick schweifen. Zwei Meter; ich blicke sie wieder an. Sie starrt weiterhin geradeaus. So was blödes aber auch. Nun müsste ich langsam meinen Kopf drehen, um sie weiterhin anzuschauen. Ich betrachte das Schaufenster rechts von mir; Zara. Sie läuft vorbei. Super.

Auch die nächsten Versuche verlaufen nicht viel besser. Ab und zu ein flüchtiger Blickkontakt – keinen Herzschlag lang – und sie schaut in eine andere Richtung. Ich entscheide, dass die Mönckebergstraße zu überfüllt ist, um sich gegenseitig ins Gesicht zu starren, und weiche auf die Seitenstraßen in Richtung Alster aus. Hier läuft ein Mädel auf mich zu, das mir tatsächlich länger als eine Sekunde in die Augen schaut. Mir wird warm ums Herz. Dann: Sie schaut auf den Asphalt, ich weiterhin auf ihr Gesicht. Kurz darauf hebt sie ihren Blick – auf einen Punkt weit entfernt – und läuft an mir vorbei. Ein "Hi" kommt erst gar nicht über meine Lippen.

Na ja, vielleicht hab ich mir zu viel vorgenommen; ausschließlich hübsche Frauen zu Grüßen erfordert nun mal etwas mehr Mumm. Ok, dann einfacher. Egal an wen, irgendwie muss ich ein erstes "Hallo" loswerden. Habe den ganzen Tag noch kein Wort gesagt. Weiter durch die Straßen. Nach meinem dritten Gruß an wahllos Fremde, die eigentlich nur ihrem Tagesgeschäft nachgehen, erkenne ich das wahre Problem: Die Aufgabe ist ziemlich lächerlich. Zumindest in meinen Augen. Klar, ich soll meine Hemmschwelle gegenüber Fremden abbauen – verstanden. Aber alles, was ich im Moment abbaue, ist meine natürliche Hemmschwelle, mich wie ein entlaufener Psychopath zu benehmen.

Hier, anders: Stattdessen ganz unverfänglich nach der Uhrzeit fragen. Ein guter Grund für soziale Interaktionen – das liegt mir irgendwie mehr. Die nächsten Tage machen Spaß; nur Frauen ansprechen, die mich auf den ersten Blick auch interessieren. Die erste Frage im Stadtpark, ein wenig abgeändert: In welche Richtung liegt die U-Bahn? Sie freut sich sichtlich: "Du läufst schon in die richtige Richtung…" Weiß ich doch. Lange, blonde, gelockte Haare. Auf den zweiten Blick gefällt sie mir doch nicht mehr so sehr. Ein anderes Mädel gesellt sich zu uns. Ob es "da hinten" Wasser gäbe. "Da liegt ein See, ja", antworte ich, und wende mich lächelnd an meine vermeintliche Erlöserin, während vorherige mit ihrem Handtuch unter dem Arm von dannen zieht: "Na ja, irgendjemand weiß immer irgendwas." – der Satz macht zwar überhaupt keinen Sinn, wir freuen uns aber trotzdem wie Schneekönige über die eigentlich nur wenig absurde Situation. Als Unbeteiligter würde ich jetzt mit den Augen rollen. Ich bedanke mich und verlasse den Park. Eigentlich traurig; aber unglaublich, wie mich das gerade gepusht hat.

Der nächste große Park. Planten un Blomen. Einen Tag und ein paar unnötige Erkundigungen später. Ich sitze auf einer Bank unten am Wasser und lese Rainald Goetz. "Rave". Ich denke mal wieder, dass der Kerl zum Besten gehört, was der deutschen Sprache je passiert ist; das Buch in meiner Hand verbalisiert das Nachtleben bis zur Perfektion: Die Musik, die Clubs, der Rhythmus, die Drogen, die Frauen, der Sex – und alles so, wie wir das am nächsten Morgen auch in unseren Köpfen wiederfinden: wirr, ungeordnet, unglaublich lebendig.

Mein Platz hier ist perfekt ausgesucht, aber doch eher ein Zufallsprodukt. In regelmäßigen Abständen treten Menschen aus den umliegenden Hecken. Meistens Paare, Kinderwagen mit Anhängsel, Jogger. Ich entschließe mich, das nächste süße Mädel in meinem Alter ansprechen zu müssen. Doch dann kommt längere Zeit nichts; Alter: vielleicht sechzig. Jetzt: Anfang fünfzig. Dann: Joggerin, attraktiv, blonder Pferdeschwanz, aber zu schnell und natürlich die obligatorischen Kopfhörer im Ohr.

Schließlich kommt doch noch jemand von links: brünett, ein wenig kleiner, faszinierende Wangenknochen. Ich lasse mein Buch sinken und schaue sie an. Das habe ich mittlerweile auch gelernt: Nicht einfach nur halb-interessiert starren, sondern Blickkontakt suchen, als würde dir gerade eine Bekannte über den Weg laufen. Diesmal kommt das ganz von allein, ich will ja schließlich etwas von ihr. Und eigentlich nicht nur die Uhrzeit. Sie schaut mich an. Ich glaube, ich habe schon die ganze Zeit ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht: "Hi." Sie lächelt zurück, "Hi", und freut sich offensichtlich, dass ich sie grüße. "Hast du vielleicht gerade die Uhrzeit für mich? Ich sitz' hier schon seit Ewigkeiten und weiß gar nicht, ob ich nicht schon los müsste." "Ja, klar." Sie verbiegt ihren Arm in eine sichtlich unbequeme Position, um mir ihre Uhr zeigen zu können. Sie muss lachen. Ich mag es, wenn sich Frauen tollpatschig benehmen. Ich kann sie dafür ja belohnen. Ein römisches Ziffernblatt: "Sowas hab' ich ja seit Jahren nicht mehr gelesen… Moment… Halb vier?" Sie sieht auf ihre Uhr: "Na ja, eigentlich..." und grinst mich an: "Doch, du hast recht." Süß. Ich bedanke mich, stehe auf, und wünsche ihr noch einen schönen Tag. Ich bin so ein Feigling.

Trotzdem merke ich wieder: Eigentlich geht es in den seltensten Fällen darum, was gesagt wird; wichtig ist der Vibe, der dabei zwischen uns beiden herrscht. Der baut sich manchmal erst während der Interaktion auf, ist aber meistens schon von der ersten Sekunde an vorhanden. In ihm steckt alles, was zwischen Fremden oft erst mühsam konstruiert werden muss: Sympathie, Vertrauen, Einordnung; das Gefühl, jemanden tatsächlich zu Kennen. Es gibt bestimmt Ehen, die allein auf Basis dieser einzigartigen, einvernehmlich-makellosen und doch so verbreiteten Erfahrung geschlossen wurden.

Irgendwann bin ich dann doch wieder in der Innenstadt unterwegs. Ballindamm diesmal, noch drei Leute und die Dreißig sind voll – mein Wochenziel. Zwei Mädels. "Hi, habt ihr vielleicht die Uhrzeit für mich?" Nummer Eins guckt ihre Freundin an. Nummer Zwei schüttelt ihren Kopf. Nummer Eins schaut zurück zu mir und schüttelt ebenfalls den Kopf. Abwertender Blick. Oh. Das ist zumindest mal was Neues. Etwas geknickt schlendere ich davon und stehe vier Meter weiter vor einem U-Bahn-Eingang inklusive überdimensionaler Uhr. Wer achtet heutzutage noch auf sowas?

Im Bus zurück. Ich bin in einen Text für meine Seminararbeit vertieft, den Marker im Anschlag. Jemand setzt sich neben mich und aus den Augenwinkeln erkenne ich nur lange, brünette Haare. Wir sitzen entgegen der Fahrtrichtung und sie schaut sich immer wieder um. Die nächste Wochenaufgabe: Zehn Gespräche mit Fremden. Warum nicht – also los: "Brauchst du Hilfe?" Auch sie wirkt erfreut. Eigentlich die wichtigste Lektion dieser ganzen Übung: Niemand fühlt sich so wirklich in seiner Privatsphäre verletzt. Dass auch andere gegenüber Fremden so offen sein können – warum überrascht mich das eigentlich? Ist das vielleicht doch irgendwo der Charme, der mir ab und zu attestiert wird? Irgendwie egoman, der Gedanke.

Sie weiß nicht, ob sie im richtigen Bus sitzt "Wo musst du denn hin?" Zu meiner Station. Toll. Sie kommt aus Nürnberg, dort nervt das schlechte Wetter, deshalb ist sie mit einer Freundin für ein paar Tage hier in Hamburg. Haha. Genau. "Was hast du denn bisher von der Stadt gesehen?" Standardfrage. Das Touristenprogramm steht erst für morgen an. Wir kommen darauf, dass man als Zugezogener die Sehenswürdigkeiten nie wirklich kennenlernt – ein falsches Gefühl von Überlegenheit vielleicht. "Wenn du willst, kannst du ja morgen mit uns mitkommen." Ihr Angebot, ganz von allein, das überrascht mich dann doch ein wenig. "Ja, warum nicht. Wenn du mir deine Nummer gibst…" Ich bekomme sie. Lisa heißt sie. Alles klar. Ich klingele sie an, denn mein absolut agenialer Plan: "Falls ihr heute Abend weggeht und nicht wisst, wohin: Sag einfach Bescheid. Ich bin wahrscheinlich mit ein paar Freunden unterwegs." "Ok, gern." Sie fährt sich durch die Haare. Mir gefallen ihre Sommersprossen, die Stupsnase und vor allem die tiefen, dunklen, unglaublich vereinnahmenden Augen. Ein Gesicht ist ja so viel wert. Sie ist vielleicht nicht vollständig schlank – aber dafür bin ich ja immer zu haben. Allerdings bitte in süß, nicht in einschüchternd. Und ja: Lisa ist verdammt süß.

Vor meiner Haustür verabschieden wir uns. Ein paar Stunden vergehen. Es wird Nacht, dann ziehe ich los. Die Stadt ist in ein makelloses Klima getaucht. Jung und ahnungslos, aber nicht dazed and confused. Yesyesyes, wir können nicht lange bleiben, ja danke, müssen weiter.

Halb fünf am frühen Morgen; Lisa und ich. Diesmal treten wir gemeinsam durch meine Haustür. Küssend, fummelnd, wie zwei Teenager. Die Nacht zuvor – eigentlich Stoff für eine weitere Geschichte, aber irgendwie auch wieder nicht. Die Sache mit uns war eigentlich schon klar, als sich vor zehn Stunden zwei Fremde in einem Bus nach Winterhude trafen. Das Mädel: Weit weg von allen Verpflichtungen. Der Kerl: Mehr als gewillt, ihr die unbekannte Stadt zu zeigen.

bearbeitet von Dysmas

Diesen Beitrag teilen


Link zum Beitrag
Auf anderen Seiten teilen

Vllt. nicht wirklich viel vom Game zu lesen. Allerdings liest sich das wie ein Roman, schoene bildliche Sprache, dass im Game einzubinden ist einer meiner nächsten Ziele und sowas zu lesen hilft :D.

Weiter so !!!

Diesen Beitrag teilen


Link zum Beitrag
Auf anderen Seiten teilen

Schön, wieder was von dir zu lesen. Es war etwas still geworden um dich... ^_^

@ Peter-Pan: Sein 'Game' bestand anscheinend darin, der Sache ihren Lauf zu lassen.

Dass ausgerechnet die Nacht fehlt, wo du doch vorher so detailliert deine Spaziergänge beschreibst... schon eigenartig.

Diesen Beitrag teilen


Link zum Beitrag
Auf anderen Seiten teilen

Vielen Dank!

Also, der letzte Absatz sollte eigentlich andeuten, was so abfällig immer "Urlaubsfick" genannt wird und doch vor allem bedeutet: In einer fremden Stadt hat man weniger Hemmungen, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Die Spannung zwischen uns war spätestens nach dem Nummerntausch sexuell aufgeladen und dazu kam Glück in Form ihrer lockeren Freundin, die uns, nach Eskalation und Makeout auf der Tanzfläche, mit einem Grinsen noch einen schönen Abend gewünscht hat, als sie zurück ins Hotel gefahren ist.

Vielleicht reiche ich die Nacht auch in den nächsten Tagen noch ausführlich nach :-D

@Jack: Ich gelobe Besserung, aber an deinen Output komm ich so schnell nicht ran ^_^

Diesen Beitrag teilen


Link zum Beitrag
Auf anderen Seiten teilen
nach Eskalation und Makeout auf der Tanzfläche

Ich bin doch nicht der einzige, der sowas genauer wissen will, oder? ^_^

Der Punkt ist: du hast eine Frau gefunden, die auf dich stand, die offen war und du hast ES NICHT VERKACKT. Das ist doch in dieser Situation das Optimum. Und das ist es, woran so viele scheitern...

Diesen Beitrag teilen


Link zum Beitrag
Auf anderen Seiten teilen

Erstelle ein Mitgliedskonto, oder melde Dich an, um zu kommentieren

Du musst ein Mitgliedskonto haben, um einen Kommentar verfassen zu können

Mitgliedskonto erstellen

Registriere Dich ganz einfach in unserer Community.

Mitgliedskonto registrieren

Anmelden

Du hast bereits ein Mitgliedskonto? Melde Dich hier an.

Jetzt anmelden

  • Wer ist Online   0 Mitglieder

    Aktuell keine registrierten Mitglieder auf dieser Seite.