Blicke sagen mehr als tausend Worte

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Gast Hnix88

Blicke sagen mehr als tausend Worte

Ich sitze wie jeden Morgen am kalten Bahnhof. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, denn der Wind ist eisig. Ich zittere ein bisschen. Ich blicke nach rechts zur Uhr. 5 Minuten noch!

"Sehr geehrte Fahrgäste, der Zug verspätet sich um ca. 10 Minuten"

Ich liebe die deutsche Bahn!

Ein älterer Mann sitzt neben mir. Er lächelt mich an. Ich grinse zurück. Allerdings sieht er es nicht, da mein Schal bis zur Nasenspitze gewickelt ist. Eine Frau nimmt Platz. Die beiden wirken sympatisch.

"Wissen Sie noch? Früher sind wir noch zu Fuß zur Schule gegangen. Heutzutage beschweren sich die jungen Leute sogar über ein paar Minuten Verspätung."

Der Mann lacht. Er schaut mich an und haut mir auf die Schulter. Ich bin überrascht, wieviel Kraft er hat.

"Früher, in Deinem Alter, habe ich im Krieg gekämpft. Ihr wisst gar nicht, wie gut ihr es habt."

Ich bin etwas verwirrt. Doch meine Neugier ist geweckt und ich mustere den Mann interessiert.

"Hast Du schon gedient?"

"Nein. Ich werde auch nicht zur Bundeswehr gehen. Ein Dienst an der Waffe kommt für mich nicht in Frage."

Die Dame neben mir mischt sich ein.

"Ich wünschte, dass man früher die Wahl gehabt hätte. Leider wurde man regelrecht dazu gezwungen. Ich habe viele Familienmitglieder verloren."

Dem Herrn steigen Tränen in die Augen. Er erinnert sich wohl nur ungern an die Dinge, die er damals erlebt hat. Sein Blick zeigt eine Mischung aus Wut, Verzweiflung und Traurigkeit.

Ich höre den Zug kommen. Wir steigen ein und setzen uns in ein Abteil. Ich bemerke, dass der Mann etwas sagen möchte, und sichtlich nach Worten sucht. Er wirkt nervös und aufgeregt. Schließlich erklärt er stockend, dass er meine Ansicht von Krieg und Gewalt völlig unterstützt. Eine Träne läuft aus seinem linken Auge. Ich biete ihm ein Taschentuch an. Er lächelt wieder.

Wir schauen beide schweigend aus dem Fenster. Es ist noch dunkel und der Nebel auf den Feldern löst sich langsam. Alles sieht so friedlich aus. Die Rehe, die auf den Feldern stehen. Die Vögel, die sich in der V-Formation sammeln, um gemeinsam in den warmen Süden zu reisen.

Ich bin ein neugieriger Mensch und frage den Mann:

"Wann wurden Sie in den Krieg eingezogen?"

Normalerweise halte ich mich zurück, aber ich spüre, dass er mir noch etwas erzählen möchte.

"Ich habe auf diese Frage gewartet. Viele Menschen interessieren sich überhaupt nicht für ihre Mitmenschen, aber Du scheinst einen anderen Eindruck zu machen."

Er berichtet mir bis ins kleinste Detail genau, welche schrecklichen Erlebnisse er durchmachen musste. Ich muss tief schlucken.

Die ganzen Reportagen im Fernsehen kann man nicht mit Aussagen eines ehemaligen Soldaten vergleichen, der jahrelang im Krieg gekämpft hat und in Gefangenschaft geriet.

"Wir haben tagelang nichts gegessen und hatten den Tod jede Sekunde im Auge."

"Durch dieses gemeinsame Erlebnis, entstand eine Kameradschaft, die man heutzutage nirgends mehr findet."

"Jeder Soldat der Einheit gehörte zur Familie."

"Man hat die Erlebnisse erst Jahre danach realisieren und verarbeiten können."

Die zwei Stunden Zugfahrt vergehen wie im Fluge.

“Nächster Halt, Hamburg!“, rauscht es aus den Lautsprechern.

Der Mann sieht, wie ich meine Sachen zusammenpacke, meine Jacke überziehe und meinen Schal um meinen Hals wickel.

"Ich hoffe, ich konnte Dir einen Einblick in das Kriegsleben geben. Bitte versprich mir, dass Du dein Wort hälst und Deinen Zivildienst im Ausland absolvierst. Das wird Dir mehr bringen, als neun Monate im Schlamm zu kriechen."

Darauf gebe ich ihm meine Hand und spüre seinen kräftigen Händedruck. Ich verlasse das Abteil. Als ich über die Schulter schaue, sehe ich sein zufriedenes Gesicht. Er hat der „Jugend“ etwas aus seinem Leben vermitteln können, dass einige zum Nachdenken anregen wird. Ich steige aus dem Zug und schaue von draußen noch einmal in das Abteil. Wir halten Blickkontakt, bis der Zug wieder im kalten, nebligen und dunklen Morgengrauen verschwindet.

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Sinn?

Kunst.

Mir hat es sehr gefallen! Nur ein paar Passagen hätte ich an deiner Stelle nochmal überarbeitet.

Aber es hat mich wiedermal bestärkt meinen Zivildienst im Ausland mit dem weltwärts-Programm zu machen. Danke!

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