Skelettfrau

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Die Skelettfrau

Jahre vergingen, bis sich niemand mehr daran erinnern konnte, gegen welches Gesetz das arme Mädchen verstoßen hatte. Die Leute wussten nur noch, dass ihr Vater sie zur Strafe von einem Felsvorsprung ins Eismeerhinabgestoßen hatte und dass sie ertrunken war.

So lag sie für eine lange Zeit am Meeresboden. Die Fische nagten ihr Fleisch bis auf die Knochen ab und fraßen ihre kohlschwarzen Augen. Blicklos und fleischlos schwebte sie unter den Eisschollen, und ihr Gerippe wurde von der Strömung um- und um- und umgedreht. Die Fischer und Jäger der Gegend hielten sich fern von der Bucht, denn es hieß, dass der Geist der Skelettfrau dort umginge.

Doch eines Tages kam ein junger Fischer aus einer fernen Gegend hergezogen, der nichts davon wusste. Er ruderte seinen Kajak in die Bucht, warf seine Angel aus und wartete. Er ahnte ja nicht, dass der Haken seiner Angel sich sogleich in den Rippen des Skeletts verfing! Schon fühlte er den Zug des Gewichts und dachte voll Freude bei sich: "Oh, welch ein Glück! Jetzt habe ich einen Riesenfisch an der Angel, von dem ich mich für lange Zeit ernähren kann. Nun muss ich nicht mehr jeden Tag auf die Jagd gehen." Das Skelett bäumte sich wie wild unter dem Wasser auf und versuchte freizukommen, aber je mehr es sich aufbäumte und wehrte, desto unentrinnbarer verstrickte es sich in der langen Angelleine des ahnungslosen Fischers. Das Boot schwankte bedrohlich im aufgewühlten Meer, fast wäre der Fischer über Bord gegangen, aber er zog mit aller Kraft an seiner Angel, er zog und ließ nicht los und hievte das Skelett aus dem Meer empor.

"Iii, aiii", schrie der Mann, und sein Herz rutschte ihm in die Hose hinunter, als er sah, was dort zappelnden seiner Leine hing. "Aiii", und "igitt", schrie er beim Anblick der klappernden, mit Muscheln und allerlei Getier bewachsenen Skelettgestalt. Er versetzte dem Scheusal einen Hieb mit seinem Paddel und ruderte, so schnell er es im wilden Gewässer vermochte, an das Meeresufer. Aber das Skelett hing weiterhin an seiner Angelleine, und da der Fischer seine kostbare Angel nicht loslassen wollte, folgte ihm das Skelett, wohin er auch rannte. Über das Eis und den Schnee; über Erhebungen und durch Vertiefungen folgte ihm die Skelettfrau mit ihrem entsetzlich klappernden Totengebein.

"Weg mit dir", schrie der Fischer und rannte in seiner Angst geradewegs über einige frische Fische, die jemand dort zum Trocknen in die Sonne gelegt hatte. Die Skelettfrau packte ein paar dieser Fische, während sie hinter dem Mann hergeschleift wurde, und steckte sie sich in den Mund, denn sie hatte lange keine Menschenspeisen mehr zu sich genommen. Und dann war der Fischer bei seinem Iglu angekommen.

In Windeseile kroch er in sein Schneehaus hinein und sank auf das Nachtlager, wo er sich keuchend und stöhnend von dem Schrecken erholte und den Göttern dankte, dass er dem Verderben noch einmal entronnen war. Im Iglu herrschte vollkommene Finsternis, und so kann man sich vorstellen, was der Fischer empfand, als er seine Öllampe anzündete und nicht weit von sich, in einer Ecke der Hütte, einen völlig durcheinander geratenen Knochenhaufen liegen sah. Ein Knie der Skelettfrau steckte in den Rippen ihres Brustkorbs, das andere Bein war um ihre Schultern verdreht, und so lag sie da, in seine Angelleine verstrickt.

Was dann über ihn kam und ihn veranlasste, die Knochen zu entwirren und alles vorsichtig an die rechte Stelle zu rücken, wusste der Fischer selbst nicht. Vielleicht lag es an der Einsamkeit seiner langen Nächte, und vielleicht war es auch nur das warme Licht seiner Öllampe, in dem der Totenkopf nicht mehr ganz so grässlich aussah -aber der Fischer empfand plötzlich Mitleid mit dem Gerippe. "Na, na, na", murmelte er leise vor sich hin und verbrachte die halbe Nacht damit, alle Knochen der Skelettfrau behutsam zu entwirren, sie ordentlich zurechtzurücken und sie schließlich sogar in warme Felle zu kleiden, damit sie nicht fror.

Danach schlief der Gute erschöpft ein, und während er dalag und träumte, rann eine helle Träne über seine Wange. Dies aber sah die Skelettfrau und kroch heimlich an seine Seite, brachte ihren Mund an die Wange des Mannes und trank die eine Träne, die für sie wie ein Strom war, dessen Wasser den Durst eines ganzen Lebens löscht. Sie trank und trank. bis ihr Durst gestillt war, und dann ergriff sie das Herz des Mannes. das ebenmäßig und ruhig in seiner Brust klopfte. Sie ergriff das Herz, trommelte mit ihren kalten Knochenhänden darauf und sang ein Lied dazu. „Oh, Fleisch, Fleisch. Fleisch“, sang die Skelettfrau. „Oh, Haut, Haut, Haut.“ Und je länger sie sang, desto mehr Fleisch und Haut legte sich auf ihre Knochen. Sie sang für alles, was ihr Körper brauchte. für einen dichten Haarschopf und kohlschwarze Augen. eine gute Nase und feine Ohren, für breite Hüften, starke Hände, viele Fettpolster überall und warme. große Brüste. Und als sie damit fertig war, sang sie die Kleider des Mannes von seinem Leib und kroch zu ihm unter die Decke. Sie gab ihm die mächtige Trommel seines Herzens zurück und schmiegte sich an ihn, Haut an lebendige Haut. So erwachten die beiden, eng umschlungen. Fest aneinander geklammert.

Die Leute sagen, dass die beiden von diesem Tag an nie Mangel leiden mussten, weil sie von den Freunden der Frau im Wasser, den Geschöpfen des Meeres. ernährt und beschützt wurden. So sagt man bei uns. und viele unserer Leute glauben es heute noch.

( Auszug aus dem Buch "die Wolfsfrau" )

Eine kurze Anmerkung von mir:

Ursprünglich wird dieser Text in diesem Buch analysiert als eine Metapher für den ewigen Kreislauf von Leben/Tod/Leben in einer Beziehung.

Das "fortlaufen" vor dem Gerippe ist eine Analogie vor der in uns all schlummernden Angst vor Misserfolg in einer Beziehung, einer Veränderung im Leben, einem sich "stellen" vor einer Aufgabe.

Ob Oneitis, Approach-Anxiety, Beziehungsprobleme, persönliche Lebensprobleme..

Wir alle!!! schauen irgendwann mal einem "Knochenschädel" in`s Gesicht, einem PERSÖNLICHEN Knochenschädel.

Laufen wir FORT wird uns das Skelett wie in der Fabel an der Angel folgen, immer wieder und wieder..

Das Skelett ist nichts! anderes wie die in jedem von uns innewohnende Angst um Liebe, Partnerschaft, Vertrauen und die Angst seine eigenen Seiten - die "vermeintlich nicht akzeptablen" Seiten - in die hässliche Knochenfratze zu schauen..

Vielleicht kann ich mit diesem jedenfalls mich inspierenden Text auch andere Menschen zum Nachdenken anregen, sich seinen eigenen unschönen Seiten bewusst zu werden, unschönen Seiten an seinem Partner bewusst zu werden und diese als das wahrzunehmen was Sie sind.

Vormals hässliche Seiten die es wert sind wie das Skelett entknotet, gesäubert, WAHR und WICHTIG genommen zu werden.

Ohne diese Akzeptanz, denke ich, blockiert man seine Entwicklung erheblich..

lg Tobi.

Mod, falls nicht lesenswert, bitte löschen.

Thx

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wow bewegend, regt sehr zum Nachdenken an.

Und es ist so wahr.

Läuft man sein leben lang vor der Angst weg, so ist sie immer wieder da, wenn man ihr plötzlich in einer Situation gegenübersteht.

Ergreift man jedoch die sich bietende Möglichkeit und stellt sich der Angst, kann man eigentlich nur sehr sehr viel daraus gewinnen.

Danke für den Text! :rolleyes:

[...]

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Thx

tsss :D

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Thx

Kann da bleiben (meiner Meinung nach).

Der text ist echt gut für die Entwicklung derer, welche sehr oberflächlich an eine beziehung ran gehen.

thx tobi :rolleyes:

bye

Angel

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wow bewegend, regt sehr zum Nachdenken an.

Und es ist so wahr.

Läuft man sein leben lang vor der Angst weg, so ist sie immer wieder da, wenn man ihr plötzlich in einer Situation gegenübersteht.

Ergreift man jedoch die sich bietende Möglichkeit und stellt sich der Angst, kann man eigentlich nur sehr sehr viel daraus gewinnen.

Danke für den Text! :rolleyes:

[...]

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Thx

tsss :D

in der Originalanalyse dieser Fabel ist sehr schön verdeutlicht daß die "hässliche Fratze" dein immerwährende Wegbegleiter ist, und egal ob in Beziehung, Partnerschaft, Beruf - der "Knochenschädel" ist nichts anderes als der wegzeigende motivierende Lehrer, der IMMER und IMMER wieder auftauchen WIRD!

Fangen wir an diesen zu akzeptieren, zu lieben, zu umarmen.

Nähern wir uns den naturgegebenen Enttäuschungen, irrationalen Erwartungen, EIGENEN "Defiziten" wie der Eskimo in seinem Iglu mit kleiner Flamme von seiner Öllampe

Lernen wir doch daß es eine Struktur wie das in dem Bsp. geschriebnen Knochengewirr gibt, das doch geradezu einlädt dieses zu verwirren, trauen wir uns doch das zu.

Das Leben hat es nicht OHNE Grund für uns eingerichtet - Das LEBEN hat den Anspruch an uns gesetzt -NATURGEMÄß-daß wir alle uns entwickeln MÜSSEN.

..oder wir laufen davon..

Tobi.

bearbeitet von tobias99

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Gast CunninLynguist

Hey Tobias,

Der Beitrag geht in eine interessante Richtung. Bei der Neuentdeckung von PU brachen bei mir zunächst sämtliche gesellschaftlichen Ideale und vermeintliche Anschauungen von Glück, Liebe usw. zusammen - was ja auch richtig war. In der Neufindungsphase aber zu glauben, PU sei knallharte Oberflächlichkeit und bestehe aus dem reinen "Austricksen" der Weiblichen Psyche und dem Sammeln von Lays - ist ein Irrglaube.

PU birgt durchaus sehr, sehr tiefgründige Elemente und hat durchaus auch eine poetische Seite, da es uns nun gelingen kann, sich großen Aufgaben im Leben zu widmen und die dafür nötige Stärke aus unserer Persönlichkeit zu ziehen.

Also nochmal - super Idee das zu posten!

CunninLynguist

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Hey Tobias,

Der Beitrag geht in eine interessante Richtung. Bei der Neuentdeckung von PU brachen bei mir zunächst sämtliche gesellschaftlichen Ideale und vermeintliche Anschauungen von Glück, Liebe usw. zusammen - was ja auch richtig war. In der Neufindungsphase aber zu glauben, PU sei knallharte Oberflächlichkeit und bestehe aus dem reinen "Austricksen" der Weiblichen Psyche und dem Sammeln von Lays - ist ein Irrglaube.

PU birgt durchaus sehr, sehr tiefgründige Elemente und hat durchaus auch eine poetische Seite, da es uns nun gelingen kann, sich großen Aufgaben im Leben zu widmen und die dafür nötige Stärke aus unserer Persönlichkeit zu ziehen.

Also nochmal - super Idee das zu posten!

CunninLynguist

thx Cunni..

..fand den Text auch sehr schön, bischen schade daß dieser in der Versenkung verschwindet..

lg

Tobi.

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Hi Tobias!

Find den Text auch gut ! Du hast recht mit der Quintessenz, dass es derz. gesellschaftlich anscheinend IN ist, sich seinen Ängesten nicht zu stellen, sondern davonzulaufen!

Und auch dir CunninLynguist muss ich absolut zustimmen! Es steckt wie schon so oft gesagt weit mehr als nur oberflächliches Verführen dazu!

Zitat Winddancer : Du musst dich zuerst selber closen, bevor du andere closen kannst! :-)

prost pablo

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Das ist eine echte Weisheit, das funktioniert übrigens nicht nur bei Ängsten. Das funktioniert bei allem, wenn ich aus diesem Forum die wichtigste Erkenntnis nennen müsste, ist es die nichts zu verdrängen, niemals wieder. Man kann sich selbst nicht entkommen. Das baut nur innerliche Spannungen auf, zieht dich die ganze Zeit runter und nagt an deinem Selbstbewusstsein.

Nie wieder Weglaufen, setz dich mit dem auseinander was dich bedrückt und akzeptiere es, egal was Änste, Gefühle, schlechte Erlebnisse (bei mir sogar das altbekannte Aufschiebeproblem)....Es tut weh aber es ist sowas von befreiend und der einzige Weg damit zu Leben und es irgendwann loszulassen. Was ich dadurch in letzter Zeit für Schritte nach vorne gemacht habe, einfach geil!! So gar meine Gesundheit ist besser geworden.

Ihr seid die geilsten!!!!

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Freut mich Stiffler,

ich habe den Text eingestellt als ich mit mir selbst gehadert habe.

Meine nächste Aufgabe sehe ich darin, die Essenz dieser Metapher vollumfänglich auf verschiedene Lebenssituationen zu übertragen.

`

Im Prinzip ist es egal ob Krankheit, Einsamkeit, falsche Erwartungen, berufliche Niederschläge..diese Metapher hilft immer wenn man diese versteht.

Es kommt der Zeitpunkt, in dem wir alle in unsere eigene Knochenfratze blicken, diese hat jedoch nicht die Aufgabe uns zu erschrecken, es ist ein Spiegelbild, das uns zeigt...it`s Time.

Zeit das anzunehmen, zu regeln, zu akzeptieren was im Moment ist, ...ohne dem gehts nicht.

Übersprungverhalten wird uns immer wieder back-to-roots führen.

Ist es ein Wunder daß sich viele HB`s oder auch HG`s, immer und immer wieder in diesselbe Beziehungskonstellation begeben?

meine absolute Lieblingsmetapher.

Tobi

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