MDM oder CHARLIE DIE MAUS

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MDM oder CHARLIE DIE MAUS

Es ist eine schöner Mittwochnachmittag. Warm, bei 28 Grad und Sonnenschein. Ich gehe in den Garten,

um die letzten Heidelbeeren zu naschen. Wir haben drei kleine Sträucher, dort, wo früher der Kirschbaum

stand. Ich hocke im Schatten des Apfelbaumes und sehe aus dem Augenwinkel unseren Kater. Er ist hell

gescheckt, ein schönes und verspieltes Tier mit aufmerksamen Augen. Meine Mutter hat ihn im vorletzten

Herbst nahe einem Holzstoß hinter unserem Haus gefunden. Er war klein und hat, ganz allein gelassen,

laut miaut. Nach seiner Kastration legte er zwar etwas Gewicht zu und faulenzte mehr, ist aber ein angenehmer

Zeitgenosse. Jedenfalls kam er um meine Beine geschlichen und begrüßte mich wie immer mit einem Stupser.

Da die letzten beiden Heidelbeeren schon auf meiner Zunge zergangen waren, ließ ich die Augen nach einem

Stock umherschweifen, fand aber nur einen langen Grashalm. Auch gut, Hauptsache es raschelt. Als der Kater

den über den Boden schleifenden Zweig bemerkte, wurden seine Augen größer, als meine früher an Weihnachten.

Mit einer, für mich unverständlichen, aber belustigenden, Motivation hechtete er dem Ende des besagten

Halmes nach. Sobald er dessen habhaft wurde, erwartete dem Gefangenen ein qualvoller Erstickungstod

durch den haarigen Vaterhintern, dessen Besitzer sich auf dem armen Opfer wälzte. Sobald meine Hand

sich auch in Reichweite der Kontrahenten wagte, wurde auch diese in einer kuschelige Umklammerung des

Todes mit in das Schauspiel einbezogen.

In unserem Garten steht eine kleine Reihe von fast ganzjährig tragenden Himbeeren. Sie sind klein und

nicht sehr ertragreich, aber angenehm süß, kein Vergleich mit den anonymen Massenzüchtungen. Als ich

nach einer dieser roten Verlockungen griff, raschelte es und ein brauner Schatten flitzte unter dem Blätterdach

Richtung Gartenzaun. War das ein Vogel oder eine Maus? Ein heller Blitz schoss aus der nahen Buchenhecke

und verdrückte sich auf den Kartoffelacker. Bei meiner Ankunft war das Maul des Katers schon wieder leer

und er schaute mir mit großen Augen entgegen. Kopfschüttelnd über seine Unfähigkeit ließ ich den Blick schweifen.

Ah, es war also doch eine Maus, die nun verängstigt zwischen den grünen Kartoffelpflanzen hockte. Aus Mitleid

nahm ich sie in die Hände und trug sie weg von dem nun sichtlich verärgertem Jäger.

Die Haushündin, ein schwarzes Labrador, ist ein gutmütiges Tier. Wäre sie als Mensch geboren, so würde sie

die CDU wählen, in einer Vorstadt wohnen und sich vegetarisch ernähren. Keine Tiere müssten sich vor ihr

fürchten, auch keine Spinnen. Nur den summenden Fliegen gegenüber würde sie beweisen, was es bedeutet,

ein Spitzenprädator zu sein. Jedenfalls erschnupperte sie mit ihrer feuchten Nase die Maus in meiner Hand und

legte den Kopf leicht schief. Nach einer kurzen und höflichen Aufmerksamkeitsbekundung und der Erkenntnis,

die Maus sei wohl doch weniger interessant als erwartet, trottete sie wieder davon.

Mutter meinte nach einer kurzen Begutachtung, die Maus sähe etwas mitgenommen aus. Und es stimmte bei

genauerem Hinsehen. Die Schnurrhaare waren abgesenkt, die Schnauze verbrannt und sowohl Teile der

Pfötchen, als auch des Schwanzes fehlten. Es sah grausam aus und nachdem ich meine Zweifel über das

mäusliche Befinden und die Überlebenschancen kundtat, wurde mir die Entscheidung überlassen. Lediglich

mit einem Stein für das schnelles Ende in der einen und das kleine Tier anderen Hand ließ mich Mutter

stehen. Entschlossen das Richtige zu tun begab ich mich an den Rand des gepflasterten Weges im Garten

und hockte mich in den Schatten des Hauses. Ich öffnete die Hand und legte die Maus sanft auf den Boden,

nur mit der Frage beschäftigt, ob ich sie sofort mit dem Stein treffen würde, wenn sie von der Hand läuft.

Doch sie lief nicht von meiner Hand. So saßen wir da und je weiter meine Unsicherheit stieg, desto wohler

schien sich Charlie zu fühlen. Erst streckte er sich aus seiner zusammengekauerten Position, dann schnupperte

er mit bebender Schnauze worauf zur Hölle er eigentlich grade saß. Es schien ihm zu gefallen, denn er putzte

sich mit seinen verkrüppelten Pfötchen die verbrannte Schnauze. Der Rest seines kaputten Schwanzes zuckte

leicht. Vollkommen abgelenkt von der Welt herum spürte ich seinen Puls. Anfangs noch sehr schnell, schien

er sich zu beruhigen. Das Fell an seinen Seiten bebte bei jedem Atemzug. Als ich seinen winzig anmutenden

Körper leicht mit meinem Daumen streichelte, quiekte Charlie vergnügt auf. Nachdem er sich selbst für sauber

genug befand, lief er meinen Arm entlang zum Ellenbogen. Während wir so spielten und herumalberten, schossen

mir dutzende von Gedanken durch den Kopf.

Diese arme kleine Maus hat es sicher nicht leicht. Hat er Schmerzen, findet er in der Welt draußen noch genug

zu fressen mit seinem Handicap? Oder ist er nur leichte Beute und spielt der Kater mit ihm heute Abend, bis

sein kleines Herz einfach nicht mehr schlägt? Soll ich ihn also laufen lassen, sein Leiden beenden, oder ihm im

ausrangierten Aquarium ein einfaches Leben ermöglichen? Das war eine schwere Entscheidung, für jede Position

gibt es ein für und wieder. Ihn laufen zu lassen bedeutete ihn in den Händen der gnadenlosen, aber gerechten

Natur zurück zu lassen. Ihn zu töten war auch nicht leicht, denn wie kann ich über ein anderes Lebewesen, dessen

Lebensqualität und Wünsche entscheiden? Ihn mitzunehmen bedeutete ihn zu bevormunden und seiner Freiheit zu

berauben. Aber was, wenn er Schmerzen leidet? Sehe ich da etwa einen bittenden Blick in seinen Augen?

Charlie, was willst du mir denn nur sagen?

Der volle Maus-Diagnosemodus hatte eingesetzt. Brainfuck pur, nimm mir die Entscheidung irgendwie ab, ich

unterwerfe mich dir voll und ganz.

Er sprang von meiner Hand.

Der Stein fiel.

Es gab einen Knall.

Ich stand auf und ging langsam und nachdenklich zum Haus zurück. War die Entscheidung richtig? Was wenn

Charlie sich etwas anderes gewünscht hatte? Als mein Blick noch einmal über die Schulter fiel, zurück auf den

Stein und den Abdruck meiner Hose auf der Bordsteinkante, erhaschte ich noch einen letzten Blick auf die kleine

Spitzmaus, wie sie zurück in die Hecke lief und wie zum Abschied freudig quiekte.

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